Führung und Veränderungsprozesse

Die Welt scheint immer komplexer zu werden. Die Anforderungen an Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter, sich ständig verändernden Umweltbedingungen anpassen zu müssen, steigen damit zunehmend. Um dem gerecht werden zu können, werden Organisationsstrukturen angepasst, Teams werden angehalten sich selbst zu organisieren und von Führungskräften wird erwartet, das alles irgendwie zu managen und Mitarbeiter zu motivieren, weiterhin Leistung zu erbringen, oder gar Personalabgänge zu verhindern.

Bis vor wenigen Jahren war es durchaus noch üblich, die Mitarbeiter verantwortlich zu machen, wenn Veränderungsprozesse nicht erfolgreich verliefen. Ich habe dieses Jahr eine Teamleiterin zur ihren Teammitglieder sagen hören, sie seinen Schuld, dass das Team kein richtiges Team sei. Aber in vielen Unternehmen werden heute andere Ansätze verfolgt und es wird versucht, Teams mit dem Ziel zu entwickeln, flexibel auf Veränderungen von Außen reagieren zu können.

Oft wird dabei übersehen, dass Teams Teil von Organisationen sind. Das kann zu Frustration führen, wenn ein gut aufgestelltes Team den Fallstricken oder festgefahrenen Strukturen der Gesamtorganisation begegnet. Ich habe es oft erlebt, dass Mitarbeiter von Verwaltung oder Rechnungswesen nur irgendwie als externe Dienstleister angesehen wurden, aber nicht mit in Veränderungsprozesse von Teams oder Abteilungen einbezogen wurden. Das führt eher zu Frontenbildung und nicht zur Identifikation mit einem gemeinsamen Ziel.

Oft wird auch unterschätzt, dass gut funktionierende Teams z.B. bei Personalwechseln schnell vor neuen Herausforderungen stehen. Veränderungsprozesse sollten deshalb nicht als diskrete Ereignisse begriffen werden, sondern sollten kontinuierlich wahrgenommen und als Chance verstanden werden.

Eines der größten Hindernisse bei Veränderungsprozessen ist die häufig anzutreffende Einstellung, dass Menschen sich nicht mehr ändern können – zumindest nicht im Erwachsenenalter. Ergebnisse aus der Hirnforschung der letzten Jahre legen jedoch nahe, dass persönliche Entwicklung bis ins hohe Alter möglich ist. Wir sind weder durch unsere Gene noch durch vorgegebene oder eingefahrene Gehirnstrukturen festgelegt.

Die Erkenntnis, dass Menschen auch im Erwachsenenalter Fähigkeiten zur geistigen Weiterentwicklung besitzen, ist jedoch nicht neu. Von Jean Piaget, über Lawrence Kohlberg, Robert Kegan oder Ken Wilber, um nur einige zu nennen, wurden seit Anfang/Mitte des 20. Jahrhunderts Stufenmodelle der menschlichen Entwicklung erforscht und untersucht. Im Wesentlichen zeigen alle entwickelten Modelle ähnliche Stufen der menschlichen Entwicklung. Auf jeder der Stufen unterscheidet sich die Art, wie wir die von uns erfahrbare Welt sehen und interpretieren.

Jede dieser Entwicklungsstufen hat ihre Berechtigung und keine Entwicklungsstufe ist besser oder schlechter als eine andere. Die Entwicklung zu einer anderen Entwicklungsstufe ist meist davon getrieben, dass die derzeitige Sichtweise auf und von der Welt nicht mehr so recht zu unseren Lebensumständen passen will – auch und gerade, wenn die wahrgenommene Umwelt immer komplexer wird.

Veränderung auf neue Entwicklungsstufen findet nicht über Anhäufung von Wissen oder bewusste Änderungen von Verhaltensweisen statt. Es geht darum, zu erkennen, was Menschen antreibt – ihre Art die Welt zu sehen. Da ist ein Prozess persönlicher Entwicklung, der Unterstützung und Zeit braucht und, wie die meisten Veränderungsprozesse, Angst machen kann.

Robert Kegan (The Evolving Self, 1983) unterscheidet fünf Stufen der menschlichen Entwicklung:

Stufe erster Ordnung (Kleinkinder)

Auf dieser Stufe erscheint die Welt magisch und mystisch und verändert sich von Moment zu Moment. Es gibt keinen Unterschied zwischen Ich und Welt. Diese Stufe ist hoffentlich nicht relevant im Unternehmenskontext, hilft aber das Prinzip der Stufenentwicklung noch besser zu verstehen.

Stufe zweiter Ordnung (ältere Kinder und Heranwachsende, aber auch bei Erwachsenen beobachtbar)

Die Welt ist weniger magisch, aber dafür komplexer. Bestimmte Dinge haben konstante Qualitäten im Zeitverlauf. Ebenso bleiben Ansichten und Gefühle (auch von anderen Menschen) im Zeitverlauf konstant (wie ich Personen einschätze oder meine Vorlieben etc.). Andere Menschen werden als Unterstützer oder Verhinderer der eigenen Bedürfnisse gesehen. Regeln werden nicht gebrochen, solange keine Gefahr besteht, dabei ertappt zu werden.

Stufe dritter Ordnung (Heranwachsende und ein Großteil Erwachsener)

Andere Menschen werden nicht mehr nur als Mittel zum Zweck zur Erfüllung eigener Bedürfnisse angesehen. Auf dieser Stufe begreift man sich als Teil von Bedeutungssystemen (Familie, Religion, Nation, Berufsgruppe oder auch Unternehmenskultur). Die eigenen Bedürfnisse werden der den Werten, Normen und Standards dieser Bedeutungssysteme untergeordnet. Die Ideen und Ansichten von anderen Menschen werden für Entscheidungsbildungen existentiell wichtig. Hier kann es vorkommen, dass das was Menschen in Teams einbringen sehr stark davon abhängt, was sie glauben, das es andere hören wollen. Im Unternehmenskontext kann das bedeuten, dass wichtige Informationen zurückgehalten werden, damit die Gruppe nicht gestört wird.

Ebenso kann es hier zu einem Spannungsfeld zwischen verschiedenen Wertesystemen von Mitarbeitern kommen, wenn sich jemand vielleicht zwischen Teamvorgaben und seinen Familienwerten entscheiden soll. Menschen auf dieser Stufe fühlen sich in solchen Situationen überfordert.

Stufe vierter Ordnung (Erwachsene)

Auf dieser Stufe haben Menschen ein eigenes Wertesystem entwickelt, dass ausserhalb von den oben erwähnten Bedeutungssystem und den Menschen, die diese System repräsentieren, liegt. Fremde Meinungen und Regelsysteme können unabhängig untersucht und gegeneinander abgewogen werden. Der Mensch wird zum Entscheider und ist nicht mehr existentiell abhängig von Ideen und Ansichten anderer Menschen – er hat jetzt sei eigenes System von Regel und Ansichten.

Konflikte zwischen verschiedenen Bedeutungssystemen führen nicht mehr zu Überforderung. Im Unternehmenskontext ist es wahrscheinlich, dass Mitarbeiter auf dieser Stufe, ihre Agenda vertreten und es verstehen, das mitzuteilen, was notwendig erscheint, damit andere ihre Agenda zu unterstützen.

Stufe fünfter Ordnung (Erwachsene)

Menschen auf dieser Stufe erkennen die Beschränkungen ihrer eigenen Weltsicht, können die Weltsichten anderer Menschen anerkennen und über alles Grenzen hinweg Gemeinsamkeiten erkennen. Es geht hier mehr um „sowohl als auch“ als um „entweder-oder“. Hier können Menschen erkennen, dass ihr eigenes Weltbild sie daran hindert, wichtige Alternativen zu erkennen.

Alle beschriebenen Stufen bauen aufeinander auf und integrieren die vorherigen Stufen.

Für Führungskräfte bedeutet das, dass sogenannte Tools oder technische Hilfsmittel nicht ausreichen, um kontinuierlich offen für Veränderungsprozesse zu sein. Alleine zu verstehen, dass Mitarbeiter, dass Menschen, Veränderungsprozesse nicht so schnell mitgehen können, weil das auf ihrer Stufe der Entwicklung vielleicht enorme Anstrengungen erfordert, ist schon eine wichtige Erkenntnis. Es bedeutet aber auch, dass Führungskräfte an sich und mit sich selbst arbeiten müssen, um sich weiter entwickeln zu können. Hier ist das Verstehen, warum die eigene Agenda, die eigene Weltsicht, Veränderungsprozesse mit anderen erschwert, enorm wichtig.

Für Unternehmen bedeutet das, dass Räume geschaffen werden müssen, in denen Entwicklung gefördert wird. Ich schreibe hier bewusst nicht gefordert. Wir können niemanden zwingen, sich zu verändern. Ein Unternehmen sollte Verantwortung für seine Mitarbeiter übernehmen, so wie es sie eingestellt hat. Führungskräfte sollten allerdings den Anspruch an sich selber haben, sich weiterzuentwickeln – eben um Mitarbeiter gut und menschlich führen zu können.

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